Wer sollte Sorge vor einem Stopp der russischen Energielieferungen haben?

11.05.2022 – Die EU kann problemlos ein sofortiges Embargo für Rohölimporte aus Russland verhängen. Innerhalb von etwa zwei Monaten könnten die OPEC-Mitglieder ihre Rohölproduktion auf das Niveau des zweiten Halbjahres 2018 steigern (was +3,3 Mio. Barrel/Tag gegenüber Q1 2022 entspricht), und Norwegen, die USA und das Vereinigte Königreich könnten die globale Produktion um weitere +0,5 Mio. Barrel/Tag erhöhen. Dies würde Russlands derzeitige Rohölexporte von 3 Mio. Barrel pro Tag mehr als kompensieren. Würde die EU das Embargo noch heute umsetzen, wäre mit zwei Monaten höherer und schwankender Weltölpreise zu rechnen, woraufhin die Preise wieder auf das derzeitige Niveau sinken dürften.

Im Gegensatz dazu würde ein sofortiger Stopp der Erdgaseinfuhr aus Russland wahrscheinlich zu ernsthaften Störungen der Energieversorgung in vielen EU-Mitgliedstaaten führen.

Sollte ein "Black-out"-Szenario – d. h. ein völliger Stopp aller russischen Energieexporte – bis zum dritten Quartal 2022 eintreten, hätten Länder, die stark von russischem Gas abhängig sind, darunter Bulgarien, Ungarn, Deutschland, die Tschechische Republik, die Slowakei, die Niederlande, Österreich, Rumänien, Italien und Polen, im nächsten Winter am meisten zu kämpfen.

Die Einbeziehung neuer Lieferanten, Substitution von Gas durch andere Energiequellen und eine gewisse Selbstrationierung des Privatsektors als Reaktion auf die explodierenden Preise würden nicht ausreichen, um die entstehende Gasversorgungslücke zu schließen.

Da das Risiko eines "Blackout"-Szenarios beträchtlich ist und die damit verbundenen wirtschaftlichen Kosten möglicherweise erheblich sind, ist es höchste Zeit, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten.

Dazu gehören (i) die Vorbereitung der Öffentlichkeit auf das Negativszenario, (ii) die Aufstockung der Gasreserven durch Gaseinsparungen, (iii) die Einigung auf ein EU-System zur gegenseitigen Absicherung bei Gasknappheit sowie ein gemeinsames Beschaffungssystem für LNG, um Versorgungsunterbrechungen und damit wirtschaftliche Kosten zu begrenzen, und (iv) die Entscheidung über einen fairen Kompromiss zur Lastenverteilung zwischen den Wirtschaftssektoren auf nationaler Ebene, um die negativen Auswirkungen auf die Industrie und damit auch auf die Beschäftigungslage einzudämmen. 

Nach mehrwöchigen Diskussionen hat die EU-Kommission letzte Woche ein neues Sanktionspaket gegen Russland vorgelegt, das einen sechsmonatigen Einfuhrstopp für russisches Rohöl und einen Ausstieg aus Raffinerieprodukten bis zum Jahresende vorsieht. Ungarn, die Slowakei und die Tschechische Republik sollen bis 2024 von den Sanktionen ausgenommen werden. Diese Länder haben bisher gezögert, Sanktionen im Energiebereich zu unterzeichnen, da sie stark von russischem Erdöl abhängig sind und sich über ihre Nachbarländer versorgen müssen, weil sie Binnenländer sind.

Nach unseren Berechnungen könnte Europa jedoch sofort ein Rohölembargo verhängen. Russland beliefert die Weltmärkte mit etwa 3 Mio. Barrel Rohöl pro Tag.

Obwohl nicht alle diese Lieferungen nach Europa gehen, ist diese Menge ein guter Richtwert für die Rohölmenge, die durch andere Lieferanten ersetzt werden müsste, um das Angebot auszugleichen und die Preise im Falle eines Embargos theoretisch zu stabilisieren.

Unserer Ansicht nach könnten allein die OPEC-Mitglieder die 3 Mio. Barrel/Tag Rohöl ersetzen, wenn sie ihre durchschnittliche Produktion von 28,2 Mio. Barrel/Tag im ersten Quartal 2022 auf das Niveau des zweiten Halbjahres 2018 anheben. Damals lieferte die OPEC durchschnittlich 31,5 Mio. Barrel pro Tag. Sollte eine Vereinbarung getroffen werden, dürfte die Rückkehr zu diesem Niveau nicht länger als ein oder zwei Monate dauern. Darüber hinaus sind die westlichen Nicht-OPEC-Ölproduzenten (Norwegen, USA, Vereinigtes Königreich) Schätzungen zufolge in der Lage, die europäischen Märkte in naher Zukunft mit zusätzlichen 0,5 Mio. Barrel Rohöl pro Tag zu versorgen. Ein Blick auf die weltweite Rohölproduktion stützt unsere Ansicht: Die weltweite Produktion liegt derzeit etwa 3 Mio. Barrel pro Tag unter dem Niveau vor der Pandemie, während die russische Produktion auf demselben Niveau wie vor der Pandemie liegt. Infolgedessen dürften die nicht-russischen Produzenten in der Lage sein, diese Lücke zu schließen, wenn auch erst nach ein oder zwei Monaten.