Jetzt mal ehrlich

Wenn Mitarbeiter den eigenen Arbeitgeber bestehlen, zerbricht nicht nur Vertrauen – auch die Existenz des Unternehmens kann auf dem Spiel stehen. Einen Ausweg bieten nur wirksame Kontrollen.

Für die Eigentümer des Schlossherstellers bricht eine Welt zusammen, als ihnen der langjährige Prokurist eröffnet, dass er Firmengeld veruntreut hat: Insgesamt 26 Mio. Euro. Dabei haben sie dem erfahrenen und seriösen Mann vertraut, ihm die Kontrolle über alle Unternehmenskonten gegeben. Noch dazu war er über die Kirchengemeinde empfohlen worden. Und jetzt rutscht das Unternehmen seinetwegen nur knapp am Zusammenbruch vorbei.

Das (wahre) Schicksal des traditionsbewussten Familienunternehmens zeigt deutlich, wie zerbrechlich selbst über Jahre gewachsenes Vertrauen in der Geschäftswelt sein kann. Und es wirft die Frage auf, warum es bei dem Hersteller von Sicherheitstechnik mit mehr als 3.000 Mitarbeitern keine internen Kontrollen gab, um den Betrug zu verhindern. Der Prokurist hatte leichtes Spiel: Er nutzte ein zuvor inaktives Bankkonto, um immer wieder Kredite aufzunehmen, mit denen er kurzfristigen Kapitalbedarf der Firma decken wollte – so erklärte er es zumindest der Bank. In Wirklichkeit flossen die Millionen an ihn. Das ging jahrelang gut und wäre womöglich weiter geglückt, wenn die Bank nicht den Geldhahn zugedreht und eine Rückzahlung gefordert hätte. In diesem Moment brach das System zusammen – und auch das Vertrauen der Firma in den Prokuristen, der seit 27 Jahren dort beschäftigt war.

Das (wahre) Beispiel des Schlossherstellers ist drastisch, aber keinesfalls die Ausnahme. Dass unendliches Vertrauen im Berufsleben leichtsinnig ist, lässt sich mit Zahlen belegen. Der EY Global Integrity Report 2020* hat beispielsweise aufgedeckt, dass die Pandemie ein erhöhtes Risiko für unethisches Verhalten bewirkt hat: 13 % aller Befragten wären demnach bereit, unethisches Verhalten Dritter zu ignorieren, um ihre eigene Karriere zu fördern oder ihre Bezahlung zu beeinflussen. Bei den Vorstandsmitgliedern ist sogar jeder vierte Manager dazu bereit.
Die jüngeren Angestellten fürchten zudem negative Konsequenzen für ihre eigene Karriere, wenn sie Verfehlungen melden. Nur 58 % gaben an, dass sie keine Folgen befürchten. Das deckt sich auch mit der Annahme, dass unethisches Verhalten oft toleriert wird, wenn leitende Angestellte oder Leistungsträger daran beteiligt sind. Mehr als ein Drittel der Befragten geht davon aus, bei den befragten Führungskräften steigt diese Zahl sogar auf 41 %.

Diese Haltung schlägt sich in der Geschäftswelt offenbar nieder: Das Beratungshaus PwC* fand heraus, dass etwa die Hälfte aller befragten deutschen Unternehmen innerhalb von zwei Jahren mindestens einmal mit einem signifikanten Fall von Wirtschaftskriminalität konfrontiert wurde. Dabei ist die Dunkelziffer hoch. Delikte im Bereich Wirtschaftskriminalität kommen meist nur dann ans Licht, wenn entsprechende Kontrollsysteme implementiert sind und die Kontrollen auch regelmäßig stattfinden. Viele Fälle bleiben auch deshalb verborgen, weil Unternehmen nicht wollen, dass die Öffentlichkeit davon erfährt. Laut PWC-Studie* leitete nur gut die Hälfte der Unternehmen überhaupt Untersuchungen zu ihrem schwerwiegendsten Vorfall ein. Diese Fälle schlagen dennoch zu Buche: Allein dort, wo die Polizei aktiv wurde, richteten Wirtschaftskriminelle laut Bundeskriminalamt (BKA)* 2021 einen
Schaden von 2,4 Mrd. Euro an.

Unternehmen, die sich vor kriminellen Mitarbeitern schützen wollen, stehen vor einer schwierigen Situation – denn meistens handele es sich nicht um gewöhnliche Kriminelle, sagt Bernd Noll. Der Pforzheimer Wirtschaftsprofessor erforscht die Profile von Wirtschaftskriminellen. Viele von ihnen bleiben lange unverdächtig. „Sie hatten weder eine schwere Kindheit, noch sind sie auf die schiefe Bahn geraten oder durch Straftaten in Erscheinung getreten.“ Doch was treibt diese Täter an? Warum schädigen sie ihre Firma und bringen ihre eigene Existenz in Gefahr?
Auslöser sei oft ein Defekt des moralischen Kompasses, sagt Noll, verursacht durch einen Wertebruch wie Scheidung, schwere Krankheit oder ein anderes einschneidendes Erlebnis, das auch im Verborgenen liegen kann. Verschwendungssucht ist die mögliche Folge. Der oben erwähnte Prokurist des Schlossherstellers kaufte eine Yacht für 3 Mio. Euro, richtete sich eine Villa mit heizbaren Außenwegen für 7 Mio. Euro ein. Er gönnte sich erlesene Weine und in den Zimmern standen handgeschreinerte Möbel aus Tropenholz. Kurioserweise wurde niemand stutzig, dass sich der Mann diese Besitztümer von seinem Gehalt gar nicht leisten konnte. In seinen Untersuchungen über Tätertypen fand Noll heraus, dass neben chronischem Geldmangel auch Habgier ein häufiges Motiv darstellt. Dass sich Mitarbeiter in der Firma bedienen, kann aber auch an der Angst vor dem sozialen Abstieg liegen, etwa, wenn sie sich durch ihren Lebensstandard fehlende Anerkennung von Eltern oder Ehepartnern verdienen wollen. Ein weiteres verbreitetes Motiv ist Rache – zum Beispiel, wenn sich ein Angestellter bei einer Beförderung übergangen fühlt.

Der angeklagte Prokurist jedenfalls erweckte vor Gericht den Eindruck, seine Motive für die Tat verdrängt zu haben. Er wisse nicht mehr, wann und warum er begonnen habe, Geld für private Zwecke abzuzweigen. Seine Absicht sei es gewesen, die Beträge irgendwann zurückzuzahlen; tatsächlich habe er aber ab einem gewissen Zeitpunkt Maß und Überblick verloren. Das Gericht ließ diese Entschuldigung nicht gelten und verurteilte den Mann zu sechs Jahren Haft. Ins Gefängnis musste auch der 39-jährige Mitarbeiter eines Outdoor-Spezialisten: Er hatte aus dem Lager Waren im Wert von mehr als 100.000 Euro gestohlen, um diese anschließend bei Ebay zu verkaufen. Er finanzierte damit seinen gehobenen Lebensstil, gönnte sich edle Abendessen, ging auf Expeditionen und in den Urlaub. Anfangs hatte ihn nur deshalb niemand im Verdacht, weil er stets freundlich war und sehr gut ins Team passte.

Der leitende Angestellte, der gegen Schmiergeld von Lieferanten überhöhte Rechnungen bezahlt, der Arbeiter vom Recyclinghof, der wertvolles Metall mitgehen lässt oder der Kellner, der ein paar Bierfässer mehr bestellt und auf eigene Rechnung verkauft – diese Fälle haben eines gemeinsam: Die Täter wurden unzureichend kontrolliert. „Vertrauen ist gut und wichtig für die Unternehmenskultur. Aber es muss Grenzen haben“, sagt Rüdiger Kirsch, Betrugsexperte bei Allianz Trade. „Mangelnde Kontrolle ist ein Freifahrtschein für Betrüger.“ Für Kirsch ist eine mangelnde Kontrolle oft sogar der Auslöser dafür, dass Mitarbeiter in die Illegalität rutschen: „Wer alle Freiheiten genießt, entwickelt über die Jahre sein eigenes Verständnis von Gerechtigkeit.“ Kirsch schildert den Fall eines internationalen Konzerns, der bei seiner mexikanischen Tochter acht Jahre lang keinen Prüfer aus der internen Revision vorbeischickte. Die laxe Kontrolle wirkte wie Gift, der Landeschef zwackte Millionen für sich selbst ab. Über lange Zeit bemerkte den Schwindel niemand.

Für Firmen ist es selbst mit teuren Auswahlverfahren unmöglich zu erkennen, ob der leitende Mitarbeiter kriminelles Potenzial hat, sagt Experte Noll. Das habe auch mit den Stellenprofilen zu tun: „Es gibt Unternehmen, die suchen gezielt Manager, die nicht nur entscheidungsfreudig und hartnäckig sind, sondern auch bereit, bis an die Grenzen des Rechts zu gehen.“

Eigenschaften, die sich in anderer Ausprägung auch bei Wirtschaftskriminellen wiederfänden. Außerdem prägten auch die Rahmenbedingungen im Unternehmen die Menschen, die dort arbeiteten. Wenn die Verhältnisse kriminelle Energie begünstigten, nütze das beste Bewerbungsverfahren nichts.

Auch wenn die Dunkelziffer weiterhin hoch ist: Immer weniger Firmen sind bereit, Fehlverhalten ihrer Mitarbeiter als Kollateralschaden zu verbuchen. Gleich nach Auffliegen des Betrugs begann der geschädigte Schlosshersteller, ein Compliance-System aufzubauen – genauso wie viele andere deutsche Unternehmen in den vergangenen Jahren. Diese Kontrollmechanismen richten sich in erster Linie gegen Datenschutzverletzungen und Korruption, werden aber schrittweise auf weitere Deliktfelder ausgedehnt, wie Vermögensdelikte, Geldwäsche oder Insiderhandel. Die Programme haben vor allem in größeren Unternehmen dazu geführt, dass die Zahl der Verstöße auf einzelnen Feldern abnimmt. Kleinere Unternehmen zeigen sich hingegen noch reserviert, weil die Chefs der Ansicht sind, dass sie ihren Beschäftigten vorbehaltlos vertrauen können. Kontrollen im Unternehmen müssen wirksam sein, aber nicht so streng, dass eine Kultur des Misstrauens entsteht, warnt Noll. „Dadurch würde das Unternehmen auf andere Weise geschädigt – was ebenfalls nicht wünschenswert ist.“